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Es war einmal in Venedig

Es war einmal in Venedig

Wilfried Herz


2022 Herz-bÜcher
Auflage: 1. Auflage
283 Seiten; 21.5 cm x 13.5 cm
ISBN: 978-3-9822903-5-5

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Klappentext
Als die deutsche Studentin Julia an einem heißen Sommertag anno 1973 im Ghetto von Venedig auf eine Katze mit Halstuch und den mysteriösen David trifft, gerät sie in einen tückischen Sog aus Täuschung und Gefahr. Kann sich Julia gegen ihre mächtigen Feinde behaupten und die große Liebe ihres Lebens retten?

Erstes Kapitel
VORHER
»Vergessen können ist das Geheimnis ewiger
Jugend. Wir werden alt durch Erinnerung.«
ERICH MARIA REMARQUE



1


Gewiss, heute bin ich ein altes Weib mit vielen Runzeln und wenigen Illusionen.
In jenem Jahr jedoch, als Picasso starb, Helmut Kohl zum Vorsitzenden der CDU gewählt wurde, in den USA die Watergate-Affäre Fahrt aufnahm und ich zum ersten Mal nach Italien fuhr, war ich blutjung, unsterblich und überzeugt davon, dass ich die Welt verändern würde – den umgekehrten Vorgang hielt ich für ebenso unmöglich wie unnötig.
Obwohl ich in meiner Kindheit und Jugend, die von wirtschaftlicher Knappheit, religiöser Bevormundung und pädagogischer Engstirnigkeit geprägt waren, wenig Zugang zu materiellen und geistigen Gütern hatte, gelang es mir mit Mamas selbstloser Unterstützung dennoch, an der Uni Freiburg Germanistik und im Nebenfach Englisch zu studieren, wobei ich zum Zeitpunkt der Italienreise mithilfe eines Stipendiums ein Auslandssemester in London bereits hinter mich gebracht hatte.
Und just als ich glaubte, über die Welt im Bilde zu sein, als ich annahm, meine Werte und Ziele hinlänglich erkannt zu haben, da fegte in Venedig ein entfesselter Orkan durch mein Leben und ließ keinen Stein auf dem andern.

Am Abend vor der Abfahrt telefonierte ich mit Mama, der es nicht leichtfiel, ihre einzige Tochter auch nur für wenige Tage in ein Land ziehen zu lassen, das von Gewalttaten der Roten Brigaden heimgesucht wurde, dessen Süden gerade gegen die Cholera kämpfte und in dem Schnulzen wie
»Perché ti amo« Nummer-Eins-Hits werden konnten.
Mama bewohnte in Wintersdorf, einem idyllischen Örtchen nahe Rastatt, am Ortsrand ein Reihenhäuschen mit handtuchgroßem Garten, das mein Erzeuger ihr samt saftiger Hypothek überlassen hatte, als er vor acht Jahren blindlings einer Jüngeren nach Bayern folgte.
In die emotionale Wüste geschickt zu werden, wenn auch von einem aufgeblasenen Narzissten, hat Mamas Gemüt nachhaltig beschädigt. Obwohl sie kaum je ein Wort über ihre Lebenswunde verloren hat, bin ich mir sicher, dass sie jahrelang gegen den Strom ihrer Schwermut anschwimmen musste, ehe sie schließlich das steinige Ufer eines leidlichen Seelenfriedens gewann. Und ganz heil wurde sie nie wieder – so wie ein Stoff nach einem Riss zwar geflickt, aber nicht mehr in den unversehrten Zustand zurückversetzt werden kann.
Männer hielt sich Mama fortan vom Leib, soweit mir bekannt ist, zumal für Liebeständel eh kaum Zeit geblieben wäre, da sie alle Hände voll damit zu tun hatte, genügend Kapital zu erwirtschaften, um unser Häuschen zu halten und uns beide zu nähren und zu kleiden. Ihrer Tapferkeit und Zähigkeit ist es zu verdanken, dass ich ein ordentliches Abitur ablegte und studieren ging.

Mein Erzeuger hingegen schenkte mir bis dato nichts weiter als drei Halbgeschwister, deren Existenz mich jedoch nicht darüber hinwegtröstete, dass er für seine abgelegte Kleinfamilie im Badischen keine müde Mark und für seine älteste Tochter keine müde Minute übrighatte. Ich gönne ihm von Herzen, dass seine neue Frau ihn, trotz ihrer insgesamt vier Kinder, mittlerweile zum Teufel geschickt hat und ihm jede erdenkliche Schwierigkeit macht, mit seinen Sprösslingen zusammen zu sein.
Am Ende des Telefonats warnte Mama mich eindringlich vor den vielfältigen Gefahren einer Reise im Allgemeinen und vor Leichtsinn, Waghalsigkeit und Naivität im Besonderen.
Vergebliche Liebesmüh.

Ella, meine Zimmernachbarin im Studentenwohnheim, kämpfte damals auf verlorenem Posten mit Betriebswirtschaftslehre, einem Studienfach, dessen Auswahl nicht ihrer Neigung, sondern den Plänen ihrer Eltern entsprach, die eine Spedition führten. Dabei hätte das faule Stück ausreichend Zeit zum Lernen gehabt, denn im Gegensatz zu mir musste sie sich ihr Studium nicht durch Kellnern oder mit dem Schleppen von Kartons in der Versandabteilung einer Druckerei finanzieren.
»68« lag erst ein paar Jahre zurück, und die Unruhe der Studenten legte sich nur langsam, sodass Freiburg vor Umbruchstimmung und Experimentierfreude vibrierte. Manchmal, wenn es meine Zeit erlaubte, zogen Ella und ich – fast immer auf ihre Kosten – gemeinsam um die Häuser oder besuchten Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen. Der attraktiven Ella zu unterstellen, sie hätte mich zu ihrer Begleiterin erkoren, um bei den Herren der Schöpfung im Vergleich zu mir noch besser zur Geltung zu kommen, wäre gelogen; denn weder brauchte ich mein Licht unter den Scheffel zu stellen, noch war Ella arglistig genug, um sich auf Kosten anderer hervorzutun. Abgesehen von ihrer Leichtfertigkeit gegenüber Jungs und ihrem ermüdenden Phlegma bestand ihre einzige erwähnenswerte Untugend in der Fähigkeit, ihre jeweilige Umgebung im Handumdrehen in eine Müllkippe zu verwandeln.
Was mich und meine Neigung zum anderen Geschlecht betraf, so hatte diese erstmals Ausdruck in einer Schülerliebe gefunden, die während der zwölften Klasse zwar sehr ernsthaft zur Schau gestellt und sogar in die jeweiligen Familien getragen wurde, jedoch pünktlich zur Abiturfeier endete.

Danach hatte ich zwei Jahre lang kein Bedürfnis mehr, mir Lust und Last einer Beziehung aufzubürden. Das begann sich wieder zu ändern, als ein angehender Bauingenieur namens Reinhard, den ich aus dem Ludwig-Wilhelm-Gymnasium in Rastatt flüchtig kannte und auf einer Studentenfete in Freiburg wiedertraf, mir auf ebenso unbeholfene wie liebenswürdige Weise den Hof machte.
Mir gefiel, dass er, aus einer wohlhabenden Bauunternehmer-Dynastie stammend, einerseits mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Wirklichkeit stand, andererseits jedoch zu kreativen Ausbrüchen imstande war.
Ein Beispiel: Als wir uns nach längerer Funkstille in der Innenstadt verabredeten und ich an der vereinbarten Straßenecke wartete, kam er in seinem hellblauen Sportwagen herangebraust, stoppte mit quietschenden Bremsen mitten auf der Ampelkreuzung und marschierte, überschwängliche Wiedersehensfreude signalisierend, mit einer Flasche Schampus sowie zwei Gläsern zu mir herüber. Trotz der lautstarken Proteste anderer Verkehrsteilnehmer und meiner Verlegenheit, öffnete er seelenruhig die eisgekühlte Flasche, ließ den Korken knallen und schenkte uns vom sprudelnden roséfarbenen Schaumwein ein, woraufhin wir die Gläser auf ex leerten.
Da er ein großer starker Kerl war, wagte es niemand, sich mit ihm anzulegen, sodass er mich ungehindert und galant zu seinem Wagen geleiten sowie in aller Gemütsruhe die Beifahrertür für mich öffnen und schließen konnte.
Hupen und Schimpfen mit einem Kavaliersstart quittierend, brausten wir als Sieger davon, und ich fühlte mich von Reinhards Inszenierung durchaus hofiert.